Die Zukunft suchen mit vorauseilendem Denken

Zu den Symptomen einer Krise gehört die Ungewissheit darüber, was die Zukunft bringen wird. Das gilt heute nicht mehr. Mit unseren Gegenwartskrisen gehen wir um, indem wir sie als Dauerzustand denken und in die Zukunft verlängern. Das schafft Orientierung, aber auch Probleme.“ Dies sagt Christian Geulen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik in Koblenz auf seiner Plattform „Geschichte der Gegenwart“.

Das kann nicht gut gehen. Dadurch verwandeln wir uns persönlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich in eine Angstgesellschaft, so David Bosshart, Chef des Gottlieb Duttweiler Instituts im eben erschienenen ZUKUNFTSMONITOR|Premium. Er sieht, wie unser Denken und Fühlen durch die Krisen geprägt wird, wobei die Medien dabei unser Bewusstsein widerspiegeln.

Skepsis hindert Zukunftsprobleme anzugehen

Wenn wir ehrlich zu uns sind, hindert uns eine nicht gering einzuschätzende Skepsis daran, mutig und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Viel zu wenig haben wir das Gefühl, dass der Klimawandel noch gestoppt werden kann, irgendjemand das Flüchtlingsproblem löst und totbringende Viren ein für alle Mal ausgerottet werden können. Es geht um das Ausmaß, in dem unser Handeln von einer als bereits determiniert gedachten Zukunft bestimmt und damit eingeschränkt wird. Dagegen müssen wir uns wehren.

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Selbsterzeugte Alternativlosigkeit

Christian Geulen drückt es so aus: „Auch wenn die heutigen Herausforderungen sicher nicht über Nacht verschwinden, sondern uns womöglich über Jahrzehnte begleiten werden, steht ihre konkrete Zukunft nicht fest. Sie jetzt schon vorauseilend als determinierte Prozesse zu denken, erkauft sich Handlungssicherheit durch selbsterzeugte Alternativlosigkeit.“

Und Geulen argumentiert weiter: „Wir scheinen gerade regelrecht zu verlernen, die Gegenwart ohne ihre unmittelbare Verlängerung in die Zukunft zu bewerten. In der klassischen Moderne hatte die Wahrnehmung von Krisen immer auch eine kathartische Funktion; sie galten immer als Brüche mit offenen Enden. Heute denken wir sie als kaum aufzuhaltende Prozesse und richten unser Denken und Handeln an dem aus, was durch sie kommen wird. Nur die schlicht hochrechnende Verwandlung der heutigen Corona-Situation in eine feststehende Zukunft verleiht den derzeit kursierenden Planungs- wie Verschwörungstheorien ihre Scheinplausibilität.“

Der Sachverhalt kann noch komplexer gesehen werden, denn die Gegenwart ist kein Augenblick, sondern ein Prozess. Nicht zuletzt nimmt die Digitalisierung rasant zu und transportiert uns buchstäblich programmiert in die Zukunft. Überall werden Entwicklungen sichtbar, die wir schon als Zukunft wahrnehmen, obwohl sie noch gar nicht oder nur in Teilen vorhanden sind.

Beispiel: Mobilität

Das gilt insbesondere für elektrische und autonome Fahrzeuge. Wir sehen uns schon in Fahrzeugen unterwegs, in denen wir computerspielend unsere Zeit verbringen. Staus werden zwar nicht ausgeblendet, aber in ihrer Bedeutung heruntergespielt.

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Beispiel: Corona Pandemie

Am Beispiel der Corona-Krise wird es besonders deutlich, wie Gegenwart in Schein-Zukunft verwandelt wird. Verschwörungstheorien wie das Leugnen der Krise oder die Verursachung durch Politik werden von Rechtspopulisten genutzt, um Bürgerkrieg, Führerkult und die Abschaffung des demokratischen Liberalismus zu ermöglichen. Fakes und Fiktion haben – unterstützt durch Social Media – längst eine unheilbare Allianz gebildet.

Um noch einmal Geulen zu zitieren: „Ist es aber überhaupt möglich, dass eine Gegenwart sich in ihre Vergangenheit und Zukunft ausdehnt, ohne von dem, was sie dort real oder imaginär vorfindet, tangiert und vielleicht sogar überrascht zu werden? Lassen sich nicht auch Prozesse wieder in Geschichte zurückverwandeln oder zumindest als Geschichte lesen? In diesem Fall wäre es an der Zeit, nicht nur die Ausdehnung unserer Gegenwart festzustellen, sondern danach zu fragen, welche Vergangenheit und welche Zukunft wir uns damit eigentlich einkaufen.“

Siehe hierzu: For Future. Zum Problem des vorauseilenden Denkens von Christian Geulen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik in Koblenz und Herausgeber von „Geschichte der Gegenwart“.

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ZM-Report: Christian Geulen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik in Koblenz