Die angebliche De-Industrialisierung

Vorbemerkung der HN-Redaktion: „Schockwellen“ heißt das neue Buch der Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Sie begnügt sich jedoch nicht damit die Schocks wie Kriegsschock, Energieschock, Preisschock, Inflationsschock, Klimaschock und ihre Ursachen zu beschreiben, sondern zeigt gleichzeitig Wege auf, welche Maßnahmen möglich sind, um mit diesen riesigen Problemen fertig zu werden. Sie kann sich dabei auf ihre jahrzehntelange Erfahrung und ihre Kontakte zu den führenden Politikern, Unternehmensführern und Fachkollegen stützen. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir zunächst einen Aufsatz aus diesem Buch.

Vorbehalte zur Energiewende

Ausgerechnet in Bayern geht jetzt die Angst vor einer De-Industrialisierung um. Der Wirtschaftsstandort Bayern sei in seiner Existenz gefährdet. „Es droht die De-Industrialisierung“, sagte Bertram Brossardt, der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft (vbw). Um der krisenhaften Entwicklung entgegenzuwirken, forderte der Verband Anfang Oktober 2022, umgehend das Angebot an Energie auszuweiten.

Falsche Rezepte

Putin wird vor Freude in die Hände geklatscht haben, wenn er solche Nachrichten hörte. Das passte perfekt in sein Erpresser-Narrativ. Denn die einzige Variante, das Energie-Angebot in Deutschland kurzfristig auszuweiten, war laut diesem Verband zu diesem Zeitpunkt, dem russischen Präsidenten ein freundschaftliches Zeichen zu geben, damit der den Gashahn wieder aufdrehte. Dafür hätte man die einzig verbliebene nicht defekte Pipeline Nord Stream 2 freigeben – und natürlich die Solidarität mit der Ukraine aufgeben müssen. Naja, würde man dann seufzend sagen, man könne sich seine Geschäftspartner eben nicht aussuchen. Man müsse Prioritäten setzen, wenn man einer De-Industrialisierung Bayerns vorbeugen wolle. Was für eine Überraschung: Wirtschaftsnahe, aber wissenschaftsferne Verbände hatten jahrelang behauptet, die Energiewende lasse die Energiepreise steigen. Nun passierte genau das Gegenteil: Ausgerechnet die Nicht-Energiewende ließ die Preise emporschießen.

Rentabilität in Gefahr?

Wegen des rapiden Anstiegs der Gas- und Strompreise, so berichtete die Süddeutsche Zeitung im Herbst 2022, greife in Teilen der deutschen Wirtschaft Panikstimmung um sich. Angesichts der erwarteten Preiserhöhungen fürchten die Betriebe und Branchenverbände, dass die Produktion in Deutschland dauerhaft unrentabel werden könnte. Solche Deutschland-ade-Drohungen kenne ich schon aus den Blütezeiten der Energiewende-Blockaden: Wenn wegen der Klima-Ideologie die Energiepreise zu sehr stiegen, hieß es sinngemäß, dann werde die Industrie aus Deutschland abwandern müssen. Schon 2014 hatte der Verband der Chemischen Industrie (VCI) gewarnt: „Aluminium-, Stahl-, Zement- und Chemiehersteller, bei denen der Energieverbrauch bis zu 40 Prozent der Gesamtkosten ausmacht, sehen ihre Existenz bedroht.“ Der Verband prophezeite „eine Welle der De-Industrialisierung“. Wirtschaftsminister Gabriel hatte sofort eingeräumt: „Wir müssen die Kosten in den Griff bekommen.“

Abwanderung droht?

De-Industrialisierung und Abwandern – das sind Standard-Vokabeln aus der Phrasen-Dreschmaschine, wenn es darum geht, die Energiewende schlechtzureden und gleichzeitig staatliche Fördermittel zu erhöhen. 2022 beschwört beispielsweise die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) dramatische Blackout-Szenarien herauf und behauptet, dass ein Bäcker auf die aus dem Ruder laufenden Kosten nur mit einer Betriebsaufgabe reagieren könne und dass in der Industrie die Frage nach Standortverlagerungen ganz weit oben auf der Agenda stünde.

Forschungsinstitute widersprechen

Tausendfach habe ich derlei in den letzten 15 Jahren zu hören bekommen. Kein einziges namhaftes Unternehmen ist jeweils abgewandert. Der Kostenanteil für Energie ist bei den meisten Unternehmen nämlich gar nicht so hoch. Laut Münchner ifo-Institut liegt der Anteil der Energiekosten am Bruttoproduktionswert in der Autobranche bei 0,5 Prozent, im Maschinenbau bei 0,8 Prozent und in der Chemie bei 3,1 Prozent.

Verlagerungen ins Ausland würden die Unternehmen allein wegen der Energiepreise nicht vornehmen, sagt das Institut, aber stark steigende Energiepreise könnten „im Einzelfall das Zünglein an der Waage sein“. Eine Studie der IWH Halle hat herausgefunden, dass die deutsche Industrie hohe Mengen Gas einsparen kann, aber nur wenig Umsatzeinbußen erleiden muss. Besonders gasintensive Produkte würden dann nicht mehr im Land hergestellt, sondern importiert werden. Na bitte. Die hohe Gasabhängigkeit kann somit leicht überwunden werden. Die deutsche Industrie ist also deutlich resilienter, als manche glauben. Ihr droht keine De-Industrialisierung. Im Gegenteil. Durch die konsequente Umsetzung der Energiewende wird eine Reindustrialisierung erreicht werden können.

Brückentechnologien kein Ausweg

Aber ist es nicht verrückt, dass ausgerechnet diejenigen, die so sehr auf die Versorgungssicherheit vermeintlich billiger fossiler „Brückentechnologien“ vertraut haben, jetzt mit dem Rücken zur Wand stehen? Und ist es nicht mindestens ebenso verrückt, dass sie dieselben Texte wieder aufsagen, statt einmal ehrlich in den Spiegel zu schauen und zuzugeben, „Wir haben uns geirrt“? Lieber machen sie Pleite oder wandern wirklich ab, als dass sie sich auch nur einen Millimeter in Richtung der verhassten Energiewende bewegen. Wer hier wohl ideologisch verbohrt ist?

Beispiele für Energiewende in Unternehmen

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AUTOR/-IN

Prof. Dr. Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Leitung Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt | Stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) der Bundesregierung

Professor Dr. Claudia Kemfert ist die wichtigste deutsche Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie. Seit 2004 leitet sie die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit. Außerdem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät. Kemfert genießt als Wissenschaftlerin weltweit höchstes Renommée und wurde für ihre Forschung vielfach ausgezeichnet. Die Bestsellerautorin erläutert die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch in der breiten Öffentlichkeit und in vielen Medien, so läuft beisielsweise im MDR regelmäßig „Kemferts Klima-Podcast“